Ein Tinnitus besteht aus körpereigenen Geräuschen
Jeder hat diese körpereigenen Geräusche, aber nicht jeder hört sie auch. Martin Kusatz vom Tinnitus-Therapie-Zentrum in Krefeld erklärt im Experteninterview das Symptom des Tinnitus.
Was genau ist überhaupt ein Tinnitus?
Martin Kusatz: Ein Tinnitus ist eigentlich nichts anderes, als körpereigene Geräusche, wie beispielsweise das Rauschen des Blutes. Diese hören wir eigentlich nicht, aber wenn man beispielsweise ein paar Studenten in einem schalltoten Raum sitzt, einer so genannten Camera Silenta, dauert es eine viertel Stunde, dann hat jeder die gleichen Ohrgeräusche. Ohrgeräusche sind also keine Krankheit, sondern nichts anderes als körpereigene Geräusche, die der Mensch in der Regel aber nicht hört, weil das Gehirn diese als unwichtig einordnet und wegfiltert. Unter bestimmten Umständen entscheidet dann das Gehirn, dass diese körpereigenen Geräusche gehört werden sollen und das wird dann als Tinnitus bezeichnet.
Welche Umstände entscheiden denn, dass diese körpereigenen Geräusche gehört werden sollen?
Kusatz: In der Literatur werden circa 400 verschiedene Krankheiten beschrieben die ursächlich mit Tinnitus in Verbindung gebracht werden, davon ist jedoch nicht eine wissenschaftlich nachgewiesen. Es handelt sich nur um Hypothesen. Wir haben hier circa 50 bis 60 000 Patienten behandelt – der Auslöser ist eigentlich immer eine außerordentliche Belastung über einen längeren Zeitraum. Nehmen wir wieder das Beispiel eines Studenten, da die Menschen die zu uns kommen immer jünger werden: Ein Student bekommt keinen Tinnitus wegen einer Klausur, sondern erst nach zwei Jahren hoffnungsloser Überforderung an den Ansprüchen des Studiums.
Also ist ein Tinnitus stressbedingt?
Kusatz: Ja. Natürlich können auch Schicksalsschläge eine Rolle spielen, das ist jedoch nicht der Normalfall. Der Normalfall ist einfach, dass Leute über einen längeren Zeitraum unter einem enormen Druck gestanden haben. Dann ist der Körper in der Lage, psychosomatische Reaktionen zu produzieren, um den Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass er jetzt kürzer treten muss.
Gibt es verschiedene Arten beziehungsweise Phasen des Tinnitus?
Kusatz: Man unterscheidet drei Phasen: die erste Phase ist die Akutphase. Diese Phase geht je nach Auslegung bis zur sechsten oder bis zur zwölften Woche. Darauf folgt die Subakutphase, sozusagen eine Übergangsphase, an die dann die chronische Phase anschließt, bei der das Ohrgeräusch dann dauerhaft vorhanden ist. Das ist meiner Meinung nach jedoch Blödsinn, da jeder Mensch diese Ohrgeräusche hat und es damit immer chronisch ist. Diese verschiedenen Phasen dienen also eigentlich nur der wissenschaftlichen Einordnung. Es gibt jedoch auch keine vernünftige Akutbehandlung mehr, da man mittlerweile weiß, dass es keine organische Ursache gibt. Ein Patient in der Akutphase leidet vielleicht mehr, weil das etwas ganz Neues ist und er sich dadurch Sorgen macht. In der Subakutphase entscheidet sich dann, ob der Patient selbst damit klar kommt, oder eine Hilfestellung braucht. Die chronische Phase würde ich jedoch komplett vergessen, da der Behandlungserfolg den man erzielen kann, unabhängig von der Leidensdauer ist. Früher wurde den Patienten gesagt: “Sie haben das jetzt schon so lange, das ist chronisch, da können wir nichts mehr machen.” Das wissen wir heute besser: Man kann zu jedem Zeitpunkt den gleichen Erfolg herbeiführen.
Angenommen ich habe einen Tinnitus und gehe zum nächsten HNO-Arzt. Was macht dieser?
Kusatz: Nicht viel. Der HNO-Arzt wird ins Ohr schauen, macht einen Hörtest und untersucht vielleicht die Leitfähigkeit des Hörnervens und mehr nicht. Denn bei den gesetzlichen Krankenkassen werden Behandlungsversuche mit beispielsweise Tabletten, Infusionen oder Ginkgo Präparaten nicht mehr von der Krankenkasse übernommen, da keine Wirksamkeitsnachweise bestehen. Seit 1997 werden jedoch die Kosten für wirksame Behandlungen komplett übernommen.
Sie haben das “Krefelder Modell” als Behandlungsmethode entwickelt, wie wird bei dieser vorgegangen?
Kusatz: Das “Krefelder Modell” ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den Tinnitus nicht auf die Ohren reduziert, sondern ihn als Teil einer Gesamtbefindlichkeit des Patienten sieht: Also die emotionale Befindlichkeit, die akustische Befindlichkeit und die psychologische Befindlichkeit. Daraus haben wir ein Konzept entwickelt, das aus verschiedenen Bereichen besteht: der Psycho- und der Musiktherapie. Der Bereich der Psychotherapie wurde zusammen mit der Universität Düsseldorf entwickelt, die musiktherapeutischen Herangehensweisen habe ich entwickelt. Dabei geht es darum, die Wahrnehmung des Menschen auf seine körpereigenen Geräusche dahingehend zu beeinflussen, dass er davon weg kommt. Der Tinnitus ist von der akustischen Seite betrachtet also eher ein Wahrnehmungsproblem. Je mehr sich der Patient Gedanken macht, umso mehr achtet er auf das Geräusch und empfindet es dann als lauter und dominanter. Dann geht es natürlich um Stressmanagement, um Entspannungsverfahren, also den Belastungen etwas entgegenzusetzten und dann geht es auch darum festzustellen: “wie bin ich eigentlich?” Die meisten Menschen, die zu uns kommen haben ganz bestimmte Charaktereigenschaften wie beispielsweise Perfektionismus, hohes Verantwortungsbewusstsein, permanentes schlechtes Gewissen und stehen unter dem Druck, immer funktionieren zu müssen.
Kann Tinnitus auch unheilbar sein und gibt es Fälle wo keine Behandlung geholfen hat?
Kusatz: Ein Tinnitus ist nicht heilbar, da es sich nicht um eine Krankheit handelt. Bei uns ist es so: Wir können in 95 Prozent der Fälle helfen und dem Rest nicht. Das hängt jedoch weniger mit der Behandlungsmethode zusammen, sondern mit dem Menschen. Wenn der Mensch nicht bereit ist, beziehungsweise die Lebenssituation es nicht zulässt, Veränderungen vorzunehmen und auf diese Signale zu reagieren, dann wird es sehr schwierig. Die Menschen müssen sich nämlich selbst helfen, wir unterstützen sie lediglich dabei herauszufinden, wie sie sich helfen können.
Interview und Foto: Jakob Heschl