Unterschätztes Risiko – Die Therapie-Fallen beim Tinnitus

Millionen Menschen in Deutschland leiden unter einem Tinnitus. Vor allem Manager, Ingenieure und Selbstständige sind betroffen. Wie man mit dem Pfeifen im Ohr leben kann – und warum viele Therapien nichts bringen.

Eines Morgens im Jahr 2002 ist Julia Winter aus Hamburg (heute 31 Jahre alt) mit einem Pfeifen im Ohr aufgewacht. Ein hoher penetranter Ton schallte durch ihren Kopf. Als das Geräusch nicht verschwinden wollte, suchte die junge Frau einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt auf. Der Mediziner riet ihr abzuwarten. In den meisten Fällen verschwinde der Ton wieder. Unzufrieden holte sie eine zweite Meinung ein. Ein weiterer Experte riet ihr zu einer Infusionstherapie. Das wirke durchblutungsfördernd. „Eine Woche lang bin ich jeden Tag dahin gegangen. Gebracht hat es gar nichts“, sagt sie heute. Im Anschluss herrschte kurz Ratlosigkeit, dann schlug der Mediziner eine psychotherapeutische Behandlungsmethode vor, die die Krankenkasse leider nicht übernehmen würde. Mehrere hundert Euro solle sie kosten. Therapieerfolg ungewiss.

„Was mir damals keiner gesagt hat, ist, dass der Ton vermutlich nie weggehen wird, und ich damit leben muss“, sagt Julia Winter. Einen Umgang mit dem Dauerpfeifen im Kopf musste sie komplett alleine lernen. Und obwohl die Diplom-Psychologin dank ihres Studiums an der Quelle zu aktuellen Forschungsergebnissen und -methoden saß, wäre ihr diese Erfahrung gerne erspart geblieben. „Es hätte mir geholfen, wenn ich diese Info früher gehabt hätte“, sagt sie. Dann wäre die Hoffnung auf eine schnelle Heilung nicht so groß gewesen. Denn „geheilt“ ist sie bis heute nicht.

Julia Winter ist nicht allein. Bundesweit leiden mehr als drei Millionen Menschen an einem sogenannten chronischen Tinnitus. Jährlich kommen nach Angaben des Selbsthilfevereins Deutschen Tinnitus Liga 250.000 Personen dazu, wobei hier nicht alle unter einer chronischen Variante leiden. Etwa 25 Prozent aller Deutschen haben schon einmal in ihrem Leben einen Tinnitus erlebt. Teilweise verschwindet er tatsächlich wieder, wie Winters erster Arzt prognostiziert hatte. Aber eben nicht immer.

Besonders frustrierend für die Patienten ist, dass die genauen Ursachen des Tinnitus bisher nicht eindeutig erforscht werden konnten. Entsprechend undurchsichtig sind die Therapiemöglichkeiten. Der Hals-Nasen-Ohrenärzte untersuchen in einem ersten Schritt, ob das Ohr rein körperlich gesund ist. Denn der Ton im Ohr kann tausende Gründe haben. Doch die Studienlange zu dem Thema ist dünn. Überlegungen, eine Verletzung des Innenohrs könne der Grund sein, ließen sich bisher ebenso wenig bestätigen, wie die Theorie, dass eine Durchblutungsstörung die Ursache sein könnte.

Kommen die Ärzte zu keinem eindeutigen Ergebnis, verschreiben sie meist Kortison oder durchblutungsfördernde Maßnahmen. Nicht selten ist das jedoch eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL), die die Kasse eben nicht immer übernimmt. Gleiches gilt für die sogenannte Hochtontherapie oder die hyperbare Sauerstofftherapie beim Hörsturz, wie ein Blick auf den IGeL-Monitor zeigt.

Grundsätzlich warnen Gesundheitsexperten vor überteuerten Angeboten. Laser- und Magnetbehandlungen gelten gemeinhin als überholt. Ebenfalls von Akkupunktur und Vitaminpräparaten wird häufig abgeraten. Auch die sogenannten Neurostimulation gilt als umstritten – nicht zuletzt, weil sie mit etwa 3.000 Euro besonders teuer ist.

Doch was letztlich anschlägt, kann im Vorfeld niemand sagen. Für die Ärzte gilt daher die Prämisse: Ausprobieren, auch wenn der Erfolg nicht garantiert werden kann – sofern die Kosten dafür die Patienten selbst tragen.

Wer also mit einem chronischen Tinnitus kämpft, steht im ersten Moment relativ alleine da. Denn die Symptome sind so individuell, wie jeder Patient selbst. Vor allem, wenn der Ton einfach nicht verschwinden will, und die Therapien nicht Anschlagen, macht sich schnell Verzweiflung breit. Tatsächlich unterscheiden Experten in unterschiedliche Abstufungen des Tinnitus. Während Grad 1 (akuter Tinnitus) keine Beeinträchtigung zur Folge hat, steht Grad 4 (chronischer Tinnitus) für eine so starke psychische und körperliche Belastung. Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Schlafprobleme, Angstzustände, Schmerzen und Depressionen können die Folge sein – bis hin zu Selbstmordgedanken.

Der akute Tinnitus tritt er in Folge einer Ohrerkrankung auf – wie zum Beispiel einer Mittelohrentzündung. Auch laute Konzertmusik kann ein Auslöser sein. Zieht sich der temporäre Tinnitus über einen Zeitraum von einem Jahr sprechen die Fachleute von einem subakuten Tinnitus. Wer länger als ein Jahr mit dem Pfeifen kämpft, hat einen chronischen Tinnitus. Je nachdem, wie sich die Beschwerden in den Griff bekommen lassen, unterscheiden die Experten noch in einen kompensierten oder einen dekompensierten Tinnitus. Das Pfeifen zu kompensieren – also durch andere Töne zu überlagern – ist die bisher einzige anerkannte Therapie, die auch von der Krankenkasse unterstützt wird.

Betroffen sind alle Bevölkerungsgruppen. Etwas häufiger scheint Experten zu Folge das Symptom bei Managern, Politiker, Ingenieuren oder Selbständigen aufzutreten. „Zu uns in das Tinnitus Therapie Zentrum Düsseldorf und Krefeld kommen oft sehr verantwortungs- und pflichtbewusste Menschen. Personen, die ich sofort einstellen würde“, sagt Dr. Martin Kusatz. Der Psychotherapeut ist als Geschäftsführer der Einrichtung tätig und behandelt Tinnitus-Patienten aus aller Welt.

„Wenn die Betroffenen zu uns kommen, dann haben sie die klassische Schulmedizin schon durch“, sagt Kusatz. Geschichten wie Julia Winter sie schildert, kennt er zu genüge. Er selbst setzt auf einen psychotherapeutischen Ansatz und praktiziert vor allem Musik- kombiniert mit Verhaltens- und Entspannungstherapie. Für Michael Bergmann, Geschäftsführer der Deutschen Tinnitus Liga, ist der Fall das der einzig richtige Weg. Er sagt: „Es gibt keine Pille gegen den Tinnitus.“ Ohne einen psychotherapeutischen Ansatz geht es in bestimmten Fällen also nicht. Das hat inzwischen auch die Schulmedizin erkannt und Umschulungen für Hals-Nasen-Ohrenärzte im Angebot. Martin Kusatz bietet entsprechende Kurse an.

Genau das war ein Prozess des Umdenkens: Lange ging die Medizin davon aus, dass der Tinnitus im Innenohr entsteht. Eine gesteigerte Aktivität der dort sitzenden Haarzellen werde über den Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet, wo sie zu einer Tonwahrnehmung führe. Daher trennten Chirurgen in einigen schweren Fällen sogar den Hörnerv. Die Patienten waren danach auf der betreffenden Seite taub – doch der Tinnitus blieb.

Nicht immer ist der Ton wie bei Julia Winter ein Piepen. Einige Patienten hören auch ein Zischen, Rauschen, Knacken oder Klopfen. „Das sind körpereigene Geräusche“, erklärt Martin Kusatz. „Die hat jeder Mensch, nur hört sie nicht jeder.“ Tinnitus-Patienten haben sich ganz einfach auf diese Geräusche konzentriert, beziehungsweise konditioniert. Sie hören genau hin und nehmen daher einen inneren Ton wahr, der für andere verborgen bleibt. Daher ist ein Tinnitus auch keine Krankheit, sondern ein Symptom.

Bei einigen mögen die Methoden der Allgemeinmedizin anschlagen. Nämlich immer dann, wenn wirklich eine körperliche Störung der Fall ist. Häufig ist das jedoch nicht der Fall, wie bei Julia Winter. Daher wühlte sie sich selbst durch entsprechende Literatur und fand eigene Lösungen. „Ich habe angefangen, leise Musik zum Einschlafen zu hören und das Fenster über Nacht offen zu lassen“, sagt sie. So habe sie mit den Jahren gelernt mit dem Tinnitus umzugehen. „Nur in ganz ruhigen Räumen werde ich wahnsinnig“, sagt sie.

Außengeräusche, auf die sich das Gehirn konzentrieren kann und so vom Tinnitus ablenken, helfen also beim Umgang mit dem Fiepen im Kopf. Bestätigt wird diese Theorie nicht nur durch positive Therapieerfahrungen sondern auch durch Tatsachen. 40 Prozent der Schwerhörigen in Deutschland leiden an einem Tinnitus, da Außengeräusche nicht von den Tönen des Körpers ablenken.

Was Julia Winter in Eigentherapie geschafft hat, bieten Profis wie Dr. Martin Kusatz im Tinnitus Therapie Zentrum an. Kusatz selbst kommt aus der Schmerztherapie und hat schon Anfang der 90er Jahre die Zusammenhänge zwischen Phantomschmerz- und Tinnituspatienten hinsichtlich der Behandlung erkannt. Eigentlich sei der Tinnitus sogar genau wie ein Phantomschmerz. Bevor Gliedmaßen amputiert werden, erleiden die Patienten oft starke Schmerzen an genau diesen Körperteilen. Über eine längere Zeit werden aus dieser Region des Körpers also Signale an das Gehirn gesendet. So lernt es, dass dort Schmerzen vorhanden sein müssten – auch wenn das Bein oder der Arm längst nicht mehr vorhanden sind. Der Kopf muss mit der Zeit lernen, dass die Signale, die er erhält, nicht der Realität entsprechen.

„Es geht darum die Gedanken vom Schmerz, beziehungsweise Tinnitus abzulenken“, sagt er. Das funktioniere bei jedem anders. Seiner Meinung nach ist die Musiktherapie ein Schlüssel zum Erfolg. Damit habe der Patient dann allerdings nur das prominente Geräusch im Kopf weggefiltert. „Das ist ein guter Weg, um mit dem Tinnitus im Alltag umzugehen“, sagt Kusatz. „Das Kernproblem hat man damit allerdings noch nicht im Griff.“

Der Psychotherapeut ist fest davon überzeugt, dass in den meisten Fällen die Ursachen für einen Tinnitus in der Art der Lebensführung begründet sind. Seine zuverlässigen, hart arbeitenden Patienten, die Überstunden und Mehrarbeit nicht scheuen und sich vor allem durch viel Ehrgeiz auszeichnen, bestätigen ihn in seiner Vermutung. „Der Tinnitus ist ein Warnsignal, das ernstgenommen werden muss“, sagt Kusatz und vergleicht ihn mit einem Rauchmelder, der Alarm schlägt bevor das Feuer ausgebrochen ist. „Der Tinnitus ist auch eine Chance, dass die Zukunft besser als die Vergangenheit gewesen ist“, ist sich Martin Kusatz sicher. Schließlich gehe es darum dem Patienten einen Alltag aufzuzeigen, der sich ohne krank zu werden bewältigen lässt. Entsprechend bietet er in seinem Zentrum auch ein psychologisches Immunisierungszentrum an.

Das gesamte Paket nennt der Therapeut „Krefelder Modell“. Wissenschaftlich begleitet wird es vom Institut für Integrative Medizin der Universität Witten/Herdecke. Der Statistiker Thomas Ostermann hat 4800 Patientenakten des Tinnitus Zentrums ausgewertet und festgestellt, dass sich die Lebensqualität in allen für die Patienten wichtige Bereiche deutlich verbessert hat. Vor allem Konzentrations- und Schlafstörungen konnten erfolgreich behandelt werden. Interessant dabei: Wie schwerwiegend der Tinnitus des Patienten war, hatte keinen Einfluss auf den Behandlungserfolg. Auch Patienten, die seit Jahren unter dem Symptom leiden, konnte geholfen werden.

Die Kosten für die Therapie in Krefeld und Düsseldorf wird zu 100 Prozent von der Krankenkasse erstattet. Kassenpatienten erhalten eine achttägige Gruppentherapie (vier Stunden am Tag), Privatpatienten eine Einzeltherapie. Einrichtungen wie das Tinnitus Zentrum in Düsseldorf und Krefeld gibt es inzwischen in allen Bundesländern. Patienten sollten sich jedoch genau informieren, ob die Kasse die Kosten für die Therapie auch wirklich übernimmt. In der Regel tut sie dies nur, wenn die Arbeit der Therapeuten wissenschaftlich überprüfbar ist. Ansonsten fallen sie unter die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), die kostenpflichtig gebucht werden können.

(Quelle: WirtschaftsWoche, von Meike Lorenzen)

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